AW: L.A. Noire
Ein ungeschliffener Rohdiamant und typisches Pioniersspiel, das zwar für sich gesehen spielerisch extrem zwiespältig und unausgereift ausgefallen ist, der Zukunft aber den Weg bereitet. Im Sinn habe ich dabei natürlich die schier unglaubliche Gesichteranimation: Rockstar waren so sehr von der Qualität überzeugt, dass sie sogar das Spielprinzip von der Schauspielerei der Charaktere abhängig gemacht haben (Stichwort Wahrheit - Zweifel - Lüge), und man muss ihnen für diesen Mut unbedingt gratulieren. Es bleibt zu hoffen, dass diese Art der Animationstechnik Schule macht und bald flächendeckend verwendet wird, denn Mimik war in Computerspielen (und selbst in ambitionierten CGI-Filmen wie "Beowulf") niemals auch nur annähernd so menschlich und aussagekräftig. Jede gehobene Augenbraue, jedes Augenrollen verrät eine Emotion, und das selbst noch in hektischen Schussgefechten, in denen man Stress und Anspannung herauszulesen glaubt. Man ist jetzt wirklich geneigt, hier von Schauspielerei zu reden, zumal man die Darsteller durch verdammt gut erkennt (einige bekannte Film-Nebendarsteller sind auch dabei). Das sorgt für einen technischen Quantensprung, der die Medien Film und Computerspiel noch weiter dazu drängt, miteinander zu verschmelzen. Hinzu kommt das stilvolle Setting und die düstere Story, die zwar mit einigen Schwächen zu kämpfen hat, im Aufbau der einzelnen Fälle und den daraus entstehenden Charakterverflechtungen aber reinstes Kinoformat besitzt.
Auf spielerischer Seite sieht es da etwas düsterer aus. Als erstes fällt ins Auge, das "LA Noire" so noir gar nicht ist: Eine Stadt, die meist im Sonnenschein liegt und mit bunten Farben belegt ist. Kaum gelangt man in die Welt der 40er Jahre, ist das stimmungsvolle Schwarzweiß-Ambiente der Menütitel verschwunden. Ein komplettes Spiel in Schwarzweiß wäre der absolute Knaller gewesen, aber natürlich auch kommerzieller Selbstmord.
Beim Spielaufbau beweisen Rockstar Mut und Emanzipation von GTA (schöner Seitenhieb übrigens: "You are arrested for Grand Theft Auto!"), indem sie dem Spieler deutlich weniger freies Geleit gewähren, sondern in Einzelepisoden verwickeln, die zwischen einzelnen Locations ein Netz aus Personen und Tatgegenständen verstricken, das sich fortwährend zuspitzt. Die Stadt selbst, so umfangreich sie auch geworden ist (nicht ganz so groß vielleicht wie "Red Dead Redemption", dazu fehlt wohl der "Mexiko"-Teil, aber geografisch ähnlich aufgeteilt - es handelt sich wohl auch um die identische Lage ein Jahrhundert später, schätze ich mal), spielt dabei zu selten eine Rolle; das Stadtdesign fällt vergleichsmäßig eintönig und unspektakulär aus. In den Mittelpunkt werden die Verhörszenen gelegt, die durch ausgezeichnetes Sounddesign und Soundtrack enorm viel Suspense erzeugen. Schade, dass die Entscheidung, ob man zur Lüge oder zum Zweifeln tendiert, manchmal fragwürdig aufgelöst wird, weil die Dialoge oder die Beweisstücke uneindeutig sind. Ob dagegen jemand lügt oder die Wahrheit sagt, ist dagegen durch die Mimik und den situativen Kontext mit etwas Übung meistens herauszufinden, und zwar ohne dass es langweilig wird, weil jede Figur von einem anderen Schauspieler gespielt wird und entsprechend anders reagiert.
Dazu kommt eine Hauptfigur, die ungemein viel Charisma versprüht (ich muss gleich mal den Darsteller googeln) und vor allem durch sein aggressives und ehrgeiziges Auftreten überzeugt. Da ist man fast froh, dass man von Rockstar dazu genötigt wird, mit Originalton zu spielen, denn das Voice Acting ist erste Sahne.
Man braucht schon eine Menge Gedud, um das Spiel komplett zu beenden (ich habe ähnlich lange gebraucht wie für "Mass Effect 2"), zumal es sich um ein sehr dialoglastiges und actionarmes Spiel handelt (und dass der Fokus nie auf der Action lag, sieht man daran, wie hakelig und dennoch kinderleicht sich die Schießereien präsentieren, in der Hinsicht ist die "GTA"-Reihe weiter entwickelt, "Red Dead Redemption" ohnehin). Es lohnt sich letztendlich wirklich wegen der großartigen Schauspielerei, den packenden Dialogen und der zumindest teilweise interessanten Geschichte - weniger jedoch wegen des noch unausgereiften, wenn auch sehr originellen Spielprinzips und der leblosen Stadt.
Unglaublicher Soundtrack übrigens, da überlegt man doch glatt, die CD-Samlung zu erweitern...
7/10