Hui, eine Gelegenheit, meine damalige Jubiläumskritik unterzubringen.
Twin Peaks
Review Nummer 500 und wieder möchte etwas gefeiert werden, das besonders zu Herzen geht, das ein besonderes Prestige beim Autoren genießt, das vielleicht aufgrund nostalgischer Erfahrung in eine gehobene Position gesetzt werden soll. Dass es zumindest mich dabei immer wieder in den Bereich TV-Serie zieht, ist, obgleich ich nun kein erklärter Serienfreund bin, gar nicht so verwegen; immerhin genießt das Episodenformat das Privileg des theoretisch Unendlichen, der infiniten Abfolge von Staffeln mit immer wieder neuen Folgen, innerhalb derer die Charaktere reifen, wachsen, einfach unverzichtbar werden. Die Beziehung des Zuschauers zu seiner Lieblingsserie ist eine andere als die zu seinem Lieblingsfilm. Betrachtet er seinen liebsten Film eher als Kunstwerk, das man einrahmen und bewundern kann, bettet er sich in das Universum seiner Serie viel lieber ein und führt eine vertrautere, viel weniger anonyme Beziehung. Mitunter wird er bei Überdosierung alsbald selbst in ihr leben und sie bei Realitätsverlust als wirklich wahrnehmen.
Was sich jedoch anhört wie ein Naturgesetz, entlarvt “Twin Peaks” als grotesken Schein. Freilich: dass es Menschen gibt, die auch David Lynchs Eindringen in das auf den ersten Blick für ihn unpassend erscheinende TV-Format längst lieben gelernt haben, lässt sich bereits im Jahr 1991 feststellen. Hier wurde die Serie nach nur zwei Staffeln eingestellt, nicht jedoch wegen mangelnder Quoten, sondern weil Lynch das Prinzip der endlosen Permutation bis zur vollkommenen Redundanz ausgereizt hatte und sich mit der Arbeit an “Wild at Heart” neuen Ufern zuwandte, bevor er folgerichtig mit “Twin Peaks - der Film” zurückkehrte und die spielerische Systematik seines ganzen Universums demontierte - was logischerweise zwiespältige Reaktionen zum Serien-Prequel im Kinoformat hervorrufen musste.
Doch liebt man “Twin Peaks” nicht gerade, weil man sich in der verträumten Kleinstadt wohlfühlen würde und sich an all die unterschiedlichen Haupt- und Nebenfiguren gewöhnt hätte - das Gegenteil ist der Fall. Wenigstens im Ansatz wird das bis dato vorherrschende Bild von Familiensagen wie “Dallas” oder “Reich und schön” nachgezeichnet und verwendet, um sich selbst anschließend davon abzustoßen. Insbesondere im Piloten, wo sorgfältig die Eigenarten des Ortes und seiner Bewohner vorgestellt werden und mit der Leiche Laura Palmers ein “falscher MacGuffin” eingeführt wird, der sich zwar wie ein klassischer MacGuffin verhält - immerhin wirbelt dieser eine Mord mit Sicherheit an die 50 unterschiedliche Handlungsstränge auf - semantisch gesehen aber keiner ist. Was schlussendlich daran liegt, dass für Lynch und seinen ebenso wichtigen Compagnon Mark Frost die Identität von Lauras Mörder viel weniger interessant ist als für das Publikum, das die Serie erst durch diese Frage so erfolgreich machte, ungeachtet der nicht gerade massenkompatiblen Sprache der Serie. So hat sich das Whodunit-Element zum Bauernfänger herausgeschält, die tatsächlichen Qualitäten liegen aber freilich nicht im Plot selbst, sondern ganz woanders.
“Twin Peaks” spinnt das Ordinäre und führt es ins Phantastische hinein. Tragik und Schönheit des Lebens werden von ihrer profanen Selbsterklärung gelöst und mit Dingen konfrontiert, die nicht in die Realität gehören, die sich mit ihr beißen und eben dennoch mit einem Fingerschnippen des Regisseurs einfach einbrechen können in den verträumten Alltag nichtsahnender Kleinstädter. Das Übernatürliche, so es denn überhaupt jemals als solches definiert wird - tatsächlich könnte man das Allermeiste nach den Regeln der Vernunft erklären - kommt auf leisen Sohlen, um plötzlich einfach da zu sein. Die Vision von Lauras Mutter über den “Killer Bob” wird unverhofft mitten in eine harmlose Unterhaltung im Wohnzimmer geschnitten. Plötzlich grinst das abstrakte Monster mit einer verzerrten Fratze hinter einem Bettpfosten hervor. Der kleine Junge in dem Haus, das Donna bei ihrer “Meals on Wheels”-Tätigkeit beliefert, lässt heißen Mais vom Teller seiner Großmutter verschwinden, hält ihn plötzlich in den Händen und im nächsten Moment sind die Hände wieder frei. Und die maximal sichtbare Transformation stellt sich in Agent Coopers Visionen dar, wenn eine klassische Überblendung das Abdriften in eine alternative Wirklichkeit verdeutlicht; beim Erscheinen des Riesen oder in der letzten Folge im Wald bei der Manifestation des roten Vorhangs.
So wird “Twin Peaks” neben “Pulp Fiction” zu einem der wichtigsten filmischen Vertreter der Postmoderne, bricht er doch das Weltbild eines rational geordneten Kleinstadtlebens brutal auf und entlarvt das wimmelnde und sich windende Treiben unter der Oberfläche. So gesehen handelt es sich um die logische Weiterentwicklung von “Blue Velvet”. Dessen Eröffnungsszene erlangte Ruhm durch die metaphorisch zu verstehende mikroskopische Fahrt über die grüne Wiese eines strahlenden Vorgartens, tief hinein in die Wurzeln zu den schleimig glänzenden schwarzen Würmern, die dort unter dem Grün hausen. Hier lässt sich nun das gleiche Muster vorfinden, versinnbildlicht durch verschiedene Dinge. Etwa Angelo Badalamentis minimalistischen Score, der in seinen Grundpfeilern drei Motive verfolgt: eines mit Free Jazz und Geschnipse, das skurril, merkwürdig und ein wenig selbstironisch anmutet; eines mit Orchester, das Erleichterung und Wohlbehagen auslöst; und eines, das durch schwerfällige Synthesizer geprägt Unsicherheit, Trauer und Furcht verkörpert, und die letzten beiden gehen nahtlos ineinander über. Auch das Bild eines Wasserfalls, das gerne zwischen zwei Szenen geschnitten wird, versinnbildlicht die Geheimnisse, die unter der fließenden Oberfläche lauern. Manchmal, wenn eine Erkenntnis durchscheint, scheint sich der Wasserfall zu spalten und den Blick auf ein schwarzes Nichts freizumachen - die dunkle Natur des Menschen, die unter Beobachtung steht.
In diesem Zusammenhang wird die Filmgeschichte in einem vom Einzelnen kaum vollständig zu erfassenden Strauß von Reminiszenzen durchzogen. Besonders in der ersten Staffel sind die Anleihen beim Film Noir das Element, das am offensichtlichsten ist. Laura Palmers Name stammt offensichtlich von Otto Premingers “Laura” ab und als Laura-Darstellerin Sheryl Lee in Form der brünetten Madeleine Ferguson in die Serie zurückkehrt, wird anhand des doppelbödigen Spiels mit der äußerlichen Verwechslungsgefahr Hitchcocks “Vertigo” zitiert, zumal der Name der Figur sich aus den von James Stewart und Kim Novak gespielten “Vertigo”-Protagonisten zusammensetzt. Weiterhin verwundert es, dass die eigentliche Hauptfigur, der von Kyle MacLachlan gespielte Agent Dale Cooper, stets in ein Tonbandgerät spricht und den Tag und die aktuelle Lage resümiert, adressiert an eine gewisse Diane, mutmaßlich seine Sekretärin aus der Großstadt, die man jedoch nie zu Gesicht bekommt. So mutiert die Ansage zum Selbstgespräch, zum an den Zuschauer gerichteten Off-Kommentar, dem Markenzeichen vieler (Anti-)Helden des Film Noir.
Bezüglich des Realitäts- und Abstraktionsgrades ist “Twin Peaks” mehr oder weniger hierarchisch geordnet, wobei die einzelnen Schichten nahtlos ineinander übergehen. Diverse Passagen lassen sich von “Dallas” und Konsorten nicht unterscheiden; insbesondere im Handlungsstrang um das Sägewerk mit Josie, Catherine und Pete wird den Intrigenspielen die höchste Realitätsebene unterstellt, was selbstverständlich nicht der gewollten Ironie entbehrt, dass die Soap-Elemente gemessen an der tatsächlichen Wirklichkeit alles andere als realistisch sind. Der Trieb nach unten zu den Abgründen hin beginnt aber schon mit dem Auffinden der in Plastik eingewickelten Leiche Lauras - Momente, die der Wirklichkeit am nächsten kommen, für ein Familienepos allerdings zu explizit wären. Die Tatsache, dass Film Noir-Elemente in die augenscheinlich “heile Welt” gelangen, dass Lynch also wild Genres miteinander vermischt, sind ein erster Hinweis auf Surrealismus, bedingt durch die Willkür des Regisseurs, wenngleich das eigentliche Geschehen auf der Leinwand noch rational zu erklären ist - bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Nun bleibt es selbstredend nicht bei dem Aufprall dieser beiden Genres; im weiteren Verlauf geben sich unter anderem die High School-Komödie der Achtziger, Screwball-Comedy und Musikfilm der Vierziger, Jugenddrama der Fünfziger, Serienkillerfilm und kafkaesker Horror gegenseitig die Klinke in die Hand.
Die Charaktere passen sich dem an und sind einer permanenten Metamorphose ausgesetzt. Kaum eine Figur, die sich im Laufe der 29 Folgen plus Pilot nicht grundlegend wandeln würde. Oft ohne jede Begründung bevölkern plötzlich vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten ein und dieselben Körper, insbesondere auffallend bei Nadine, der einäugigen Frau des Tankstellenbesitzers Big Ed, die sich nach einem Unfall vom manisch-depressiven Hausdrachen zum lebensfrohen, 35-jährigen “Teenie” wandelt. Einen Grund für diese Metamorphosen gibt es nicht oder zumindest wird er nicht vorgetragen. Allerdings dokumentiert er die Ziellosigkeit der Serie, das Hinauslaufen auf einen infiniten Regress, der Lynchs erklärtes Ziel war in dem Verlangen, die Muster eines Spielfilms zu durchstoßen. Ein Verlangen, das man überdeutlich schon in “Blue Velvet” feststellen konnte, dessen Ambitionen jedoch durch das begrenzende Medium noch im Zaum gehalten wurden.
Eine besondere Rolle dabei spielt auch der auffällige Bruch innerhalb der Serie, der nach Episode 16 eintritt, wenn der Mörder Laura Palmers enttarnt wurde. Angeblich auf Druck des Studios geschehen, wendet sich das Blatt jedoch zugunsten der Grundaussage, die besagt, dass es eben kein abgeschlossenes, zufriedenstellendes Ende geben kann. Mit der Aufklärung des Falls, für den Agent Cooper eigentlich erst eingeschaltet wurde, wird sein Wirken innerhalb der Serie im Grunde hinfällig und die Geschichte müsste abgeschlossen sein; dem ist aber nicht so, weil banalerweise der Agent, bei den Untersuchungen auffallend stark mit mythologischen und sonstigen nicht herkömmlichen Untersuchungsmethoden kokettierend, von der Aufsicht heimgesucht und suspendiert wird. Aufgrund von Coopers Charakterisierung als begeisterungsfreudiger Intellektueller (“verdammt guter Kaffee!”), der sich im Gegensatz zu seinem FBI-Kollegen Albert (Miguel Ferrer) auch sehr gut mit dem “primitiven Landvolk” versteht (allerdings macht auch Albert diesbezüglich eine der oben erwähnten Metamorphosen durch), entschließt er sich einfach, in Twin Peaks zu bleiben, und hat wegen der Freundschaft, die sich derweil zwischen ihm und Sheriff Harry S. Truman (Michael Ontkean) entwickelt hat, auch keine Probleme, eine Festanstellung im ansässigen Sheriff’s Department zu finden. So geht die Geschichte also einfach weiter und entwickelt nach der Sache um Laura einen neuen Handlungsstrang um den ominösen Windom Earle (Kenneth Welsh), jedoch nicht ohne gewisse Parallelen zur ersten Hälfte der Serie beizubehalten - ganz ähnlich wie die beiden unterschiedlichen Hälften von “Lost Highway”.
Nach dem Paukenschlag um die Bekanntgabe des Mörders zeigt sich kurzzeitig die einzige Schwäche der gesamten Serie, als das Geschehen ein wenig dahinplätschert in dem Bemühen, die Kurve zu kriegen und das neue Hauptmotiv zu integrieren. Lynch selbst hatte sich inzwischen auch weitgehend von den Dreharbeiten zurückgezogen und bezüglich der Subtilität geht der Serie im zweiten Teil durchaus einiges verloren. Das Geschehen wird surrealer, abgehobener, zugleich aber konkreter und plakativer. Was in einer Grauzone begann, wandelt sich langsam zur Begegnung von Gut und Böse, oder Schwarz und Weiß, auf den Punkt gebracht in den Treffpunkten “schwarze Hütte” und “weiße Hütte”, so dass einem Stephen King alle Ehre gemacht wird, als die Schemata des 1990 erschienenen Werkes “ES” wiedergegeben werden. Das stellt sich aber nur zu Anfang als Defizit heraus, weil der Übergang vom Diffusen zum Konkreten holprig ist; letztendlich wird Twin Peaks gen Ende hiermit auf ein neues Level gehoben.
Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass man als Zuschauer durch und durch lediglich an der Nase herumgeführt wird. In Zeiten, in denen das Übernatürliche keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockt, versteht sich “Twin Peaks” als Hypothese, als Spiel, oder “was-wäre-wenn”-Szenario. Man weiß, dass der moderne Mensch in Anbetracht des überwältigenden wissenschaftlichen Fortschritts sich nicht mehr in gleichem Maße vom Übernatürlichen beeindrucken lässt wie sein Vorfahre. Also schafft man ein neues Areal, das des Spiels, in dem die Gesetze des Übernatürlichen zählen können. “Twin Peaks” ist ein hinterlistiger Metaebenen-Tanz, der nicht aufhört, systematisch zu kreisen.
Anzeichen gibt es dafür mehrere. Die Soap Opera “Invitation to Love” läuft jederzeit auf den Bildschirmen der Einwohner und nimmt vorweg, was mit den Menschen aus Twin Peaks geschehen wird: als eine Schauspielerin in den Opening Credits für zwei Rollen erwähnt wird, taucht erstmals Maddie Ferguson auf, die Laura wie aus dem Gesicht geschnitten ist; als auf dem Bildschirm der Bösewicht erschossen wird, liegt Rüpel Leo Johnson (Eric DaRe) blutend gleich daneben, weil ihm gerade jemand durch das Fenster eine Kugel verpasst hat. Im Windom Earle-Abschnitt übernimmt das Schachspiel diese metaphorische Funktion, ausgeführt als kranke Idee eines Serienkillers, im Dienste jedoch der Darstellung der Allmächtigkeit der Serien-Macher, die alleine darüber entscheiden, was geschehen wird und wie es geschieht. David Lynch und Mark Frost, sie alleine sind Herr über die Spielzüge; und wenn sie es verlangen, kann der Turm auch diagonal laufen und der Bauer fünf Felder auf einmal.
Schlüsselszenen wie der Traum Coopers, wie er im Red Room als alter Mann sitzt und eine Frau, die wie Laura aussieht, ihm den Namen des Mörders ins Ohr flüstert, halten die Handlung beisammen und vereinen sämtliche Handlungsbögen miteinander auf dem Boden der Signalfarbe Rot. Dinge ergeben aufgrund von logischen Schlüssen oder Gegensätzen (Zwerg - Riese) einen grotesken Sinn im Sinne der Vollständigkeit. In der letzten Episode, die wieder von Lynch inszeniert wurde, irrt Cooper in einem surrealen Alptraum durch die nicht enden wollenden Räumlichkeiten, deren Wände eigentlich Vorhänge sind. Eine infernale Unendlichkeit, die Urängste auslöst; Ängste vor der Schutzlosigkeit (die Vorhänge bieten keinen festen Halt und jeder könnte durch sie hindurchgreifen), vor der Ewigkeit und dem fehlenden Sinn.
“Twin Peaks” endet schließlich offen, mit einem verstörenden Cliffhanger in den Abspann gelassen, nicht beendete Handlungsstränge außer Acht lassend. Doch Vorwürfe dagegen sind obsolet, würden sie damit doch alles kritisieren, wofür die Serie jemals gestanden hat. Das Finale dokumentiert Grenzenlosigkeit, künstlerische Freiheit und ihre Konsequenzen für den menschlichen Geist. David Lynch schuf die möglicherweise erste Serie ohne Grenzen. Das Medium TV war danach nicht mehr dasselbe. Direkt in die Tradition stellen wollten sich die wenigsten, aber Produktionen wie beispielsweise “Akte X” und der darauffolgende Mystery-Boom lassen erahnen, dass die Serienlandschaft das unheimliche Treiben aus dem gemütlichen Holzfällerörtchen in sich aufgesogen hat wie ein gedämpft wirkendes Gift, das zur Folge hatte, dass keine Serienwelt mehr auskam ohne die dunklen Geheimnisse, die ihnen allen von Natur aus innewohnen.