Enys Men
April, 1973: eine namenlose Frau lebt allein auf der kleinen Insel Enys Men (ausgesprochen wird das „Ennis Maine“ [also wie der Bundesstaat Maine]) vor der Küste Cornwalls. Ihr Tagesablauf ist immer gleich: in roter Regenjacke die morgendliche Runde drehen, Temperatur an einem kleinen mit Blumen bewachsenen Erdstückchen messen, einen Stein in ein mysteriöses Loch werfen und die Beobachtungen dann in ein Tagebuch eintragen. Die Einträge sind immer dieselben: das aktuelle Datum und „No change“. Doch eines Tages ändert sich die Routine. Die Blumen bilden seltsame Flechten, aus dem Erdinnern ertönt metallisches Klopfen, und möglicherweise ist die Frau ja nicht allein auf dem kargen Eiland.
Zwei Dinge fallen in „Enys Men“ sofort auf: es wird fast nichts gesprochen (von ein paar Radiomeldungen abgesehen, dauert es fast eine halbe Stunde, ehe die Frau überhaupt etwas sagt), und im Gegensatz zu mehr oder weniger allen Großproduktionen (recht aktuelles Negativbeispiel ist für mich „Last Night in Soho“) sieht dieser Film tatsächlich aus, als wäre er 1973 und nicht 2022 entstanden. Regisseur Mark Jenkin (mir bis dato völlig unbekannt, was sich nun ändern wird) drehte seinen ruhigen, elegischen, mysteriösen Horrorfilm auf 16 mm, verzichtet nahezu auf jegliche Effektspielchen und lässt überwiegend allein die Bilder sprechen. Die sind manchmal schön, manchmal verstörend, meist rätselhaft.
Der Vergleich mit Filmen von Nicolas Roeg drängt sich auf. Dass unsere namenlose Hauptfigur einen knallroten Regenmantel trägt, dürfte kein Zufall sein. Doch ich fühlte mich vor allem an Bela Tarrs „The Turin Horse“ erinnert. Beide Filme teilen mehr als nur eine Gemeinsamkeit. In beiden Filmen wurde Alltagsroutine zu einem Ritual. In beiden Filmen herrscht das Gefühl der Isolation vom Rest der Welt vor. Beim „Horse“ ein Bauernhof, bei „Enys Men“ eine ungemütliche Insel. Beim einen versiegt der Brunnen, beim anderen geht das Benzin für den Generator aus. Hier stirbt das Pferd, dort werden die Vorräte an Tee aufgebraucht (für eine Engländerin sicher der GAU schlechthin). Beide Filme machen wenig Worte, beide Filme sind in ihrer endzeitlichen Trostlosigkeit faszinierend anzusehen: kunstvolle Schwarzweißbilder hier, knallbunte Kodak-Farben dort.
Beide Filme sind keine leichte Kost. Ganz besonders „Enys Men“ macht sich denn auch nicht die Mühe, irgendwelche Antworten für seine Mysterien zu liefern. Obwohl sich jede Menge Fragen während und nach Sichtung auftun. Die Deutungen dürften zahlreich ausfallen: dreht die Frau einfach nur durch? Hockt sie in ihrer privaten Hölle? Was ist Schein, was ist Sein? Autor/Regisseur Mark Jenkin gibt dem Zuschauer nicht viel mit auf den Weg, um ihm die Antwortfindungen zu erleichtern. Das muss er auch nicht. Vermutlich ist jede Interpretation so richtig oder falsch wie eine andere.
Auf jeden Fall ist „Enys Men“ einer der faszinierendsten Filme, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Extrem ruhig, das Gegenteil von schwatzhaft (ich LIEBE das) und von Anfang bis Ende hypnotisch.
Volle Punkte und ein Anschautip für jedermann, der es manchmal filmisch etwas anders mag.
In UK ist eine sehr schöne BD mit tonnenweise Extras vom BFI erschienen. Da ohnehin kaum gesprochen wird, ist diese Scheibe auch für den nicht anglophilen Filmfan zu empfehlen.
Edit: würde ein Mod bitte noch den Thread anpassen? Ich hab seit Ewigkeiten keine KK mehr erstellt und das Format irgendwie nicht mehr richtig hinbekommen. Also das mit dem ersten Beitrag, denn der eigentlichen KK usw. Danke!!!