AW: Das unbekannte Gesicht
Kritik von Vince
DAS UNBEKANNTE GESICHT
Ausschnitte aus meiner
ofdb-Kritik
Ein Film wie Blätterkrokant, wie eine umgekehrte Mumifizierung oder das Schälen einer Zwiebel - Schicht für Schicht wird abgetragen, bis das Verborgene langsam Form annimmt. “Die schwarze Natter”, ein Glied der schwarzen Serie, das sich über visuelle Reize und ungewöhnlich eingesetzte Gimmicks definiert.
Gerade erst war Robert Montgomery mit “Die Dame im See” an der subjektiven Kamera gescheitert, dient sie dem dritten Film Humphrey Bogarts mit Lauren Bacall an seiner Seite bereits wieder als erster von insgesamt drei Akten. Delmer Daves baut die Geschichte voller Wendungen um drei Erzählperspektiven, die leicht an “Der Unsichtbare” (1933) erinnern: Im Mittelpunkt ein gejagter Mann, bis zur 35. Minute aus der Ich-Perspektive dargestellt; zur vollen Stunde hin ein Mann in Gips und zuletzt Humphrey Bogart in Fleisch und Blut, so wie man ihn kennt.
Unleugbar ist dabei der Triumph des Spektakels mit Pauken und Trompeten über die storytechnische Raffinesse, denn bei näherer Betrachtung bietet Delmer Daves nichts weiter als einen Film Noir-Plot von der Stange an. Die Zutaten - düstere Gestalten, eine korrupte Welt, eine Femme Fatale, Gefahren, Einsamkeit und Isolation, Verwirrung und falsches Vertrauen - sind allesamt da, sie werden aber nie in neue Bereiche gepeitscht. Nur dem großzügigen Einsatz von Experimentierfreudigkeit in der technischen Umsetzung ist es zu verdanken, dass das Werk aus der breiten Masse ragt. Eine enorme Intensität ist ihm keineswegs abzusprechen, auch der Unterhaltungsfaktor wird groß geschrieben.
Besonderen Gefallen dürften gar Anhänger von William Castle finden und solche, die bei Hitchcocks Arbeiten vor allem den schwarzen Humor und die B-Movie-Parts geschätzt haben. Bogart und Bacall (die eine sehr einprägsame Leistung bringt) liefern sich immer wieder gewitzte Wortduelle inmitten der Unsicherheit ihrer Beziehung und Randfiguren wie der Nachtwächter, dem Bogart einen Polizisten vor das fahrende Auto stößt, sorgen für deftige Einlagen voller Komik. Ein dezenter Surrealismus, der seinen Höhepunkt in der Vision des Sträflings während seiner Gesichts-OP findet, lässt Parallelen zu “Spellbound” und entfernt auch “Vertigo” zu. Die aktionsbetonte Hektik nach der Flucht ermöglicht derweil Vergleiche zu “Die 39 Stufen” und “Der Unsichtbare Dritte”. Es ist mitunter schon ein Best Of der kuriosesten Momente aus 50 Jahren Hitchcock, abgeschmeckt mit der sensationslüsternen Präsentation eines William Castle, Suspense gewagt mit plötzlichen Storytwists konterkarierend.
In der einprägsamen Darstellungsweise ist letztendlich auch die Stärke des doppelbödigen Werkes zu finden, das bis zum Schluss gleichwohl spannend wie rätselhaft bleibt. Es ist nicht wirklich ein überragender oder auch wichtiger Vertreter des Film Noir, aber er versteht es doch, dessen dogmatischem Regelwerk ein wenig frischen Wind durch das Gehäuse zu pusten. So etwas ist immer sympathisch und in diesem Falle auch sehr sehenswert.
7/10