AW: Der Mann mit der Kamera
Ich habe mir den Film am letzten Wochenende direkt ein zweites Mal angesehen, aber wieder wählte ich die bereits gehörte Musik, da sie doch einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Die zweite Sichtung war noch einmal intensiver und vor allem bei manchen Szenen wollte die Gänsehaut gar nicht mehr nachlassen. Vor allem gen Ende war die lange Sequenz mit der Kamera, wie sie jetzt vollkommen zu Leben erwachte, für mich einfach atemberaubend.
Anschließend habe ich mir noch einige Stellen sowohl mit der Musik von Werner Cee und als auch von In the Nursey angesehen, die riesige Unterschiede zu den Orchesterkompositionen des Michael Nymans offenbarten. Werner Cees Begleitung wirkte auf mich am experimentellsten, da er zwischen musikalischen Klangeindrücken auch viele Geräusche aus der Industrie, der Natur und nicht direkt ortbare Quellen verwendet hat. Die Musik scheint allein schon eine eigene Dramaturgie zu besitzen.
Die Musik von In the Nursey wirkte für mich fast vollkommen diametral zu Nymans Kompositionen, da die ruhigen elektronische Klänge selbst die schnell rhythmisierten Bildabfolgen im Vergleich zu Nyman unaufgeregt begleitet. Jede Musik lässt den Film sehr unterschiedlich wirken, sodass es den Eindruck erweckt, dass es sich beinahe um unterschiedliche Filme handeln könnten. In Zukunft werde ich mir diesen Film auf jeden Fall noch komplett in den anderen Tonfassungen ansehen, aber mein Favorit ist aktuell natürlich die Musik von Michael Nyman.
Der Film selbst besitzt durch seinen mannigfaltige Eindrücken, Sequenzen und Themen so viel Interpretationsraum, dass ich es gar nicht vermag alles in Worte zu fassen. Vielleicht ist das auch bewusst so gewählt, denn schließlich wollte Vertov eine internationale Filmsprache erschaffen, die sich von dem literarischen Skelett und den anderen Künsten distanziert und sich vollkommen der Kamera als vollendetes Auge widmet. Während beider Sichtungen musste ich auch unwillkürlich an Chris Markers „Sans Soleil“ denken, denn auf mich wirkten die Filme wie ein geistiger Zwilling. Beide befassen sich mit den kreativen wie auch technischen Möglichkeiten der Filmkamera und lassen im Fokus des Films den Kameramann rücken. Marker entwickelt die Filmsprache von Vertov weiter, indem er Ton hinzufügt sich spezifischer mit Themen auseinandersetzt, aber schlussendlich versuchen beide Regisseure den Prozess der Abbildung von Wirklichkeit durch Selbstreferentialität und der geschilderten Manipulation/Selektion der Bilder sowie der Montage zu ergründen. Während Vertov mit seiner Montage den Chaos des Alltags ordnen und für den menschlichen Verstand greifbar und für's menschliche Auge erfassbar machen möchte, ergründet Marker mithilfe des Videosynthesizers die Authentizität des Bildes und versucht mit erweiterten technischen Apparaturen die Umwelt ebenfalls zu ordnen und gleichzeitig damit die menschlichen Erinnerungen zu beeinflussen.
Vertov kann und wurde auch der Vorwurf gemacht, dass seine Bilder oft nur einen reinen Selbstzweck verfolgen. Sie scheinen für ein Publikum gemacht worden zu sein, die so die kindliche Schaulust annähmen und dadurch die Film mit anderen Augen wahrnehmen können (Kinder sind auch ein zentrales Motiv des Films), wohingegen der Essayfilm von Marker mithilfe der Monologe eine metaphysische Ebene erreicht, die Vertovs Film nur in einer intensiven Nachbesprechung erfahren könnte, aber dann meist nur als marginales Thema, da diese Themen reflexive Ebene oft durch den politischen Hintergrund des Films und Vertovs verdrängt werde.