AW: Der unsichtbare Dritte
Kritik von Farman
Der unsichtbare Dritte
Zusammen mit den Credits und Bernard Herrmanns grandioser, pompöser Titelmelodie erscheinen von einer unsichtbaren Hand gezeichnet weiße Linien auf der grünen Leinwand, ergeben horizontal und vertikal ein Kästchenmuster und verwandeln sich letztendlich in ein verglastes, hypermodernes Gebäude. Die Farbe grün, die in Hitchcocks Vorgängerwerk „Vertigo“ eine so morbide Wirkung hatte, ist zu sehen, bevor der Film beginnt. Ein helleres Grün als das schmierige aus dem Reich der Toten in Vertigo, doch die Assoziation kann ich mir nicht verkneifen. Vor unseren Augen spielt sich die Geburt einer „realen“ Welt ab, dem modernen, strukturierten, anonymen Informationszeitalter, eine Geburt aus dem Reich der Toten, dem Reich der Filmwelten.
Danach sehen wir Bilder von motorisierten Menschenmengen und mechanisiertem Großstadtleben, fast ein Zitat aus Chaplins „Moderne Zeiten“.
Danach sieht man die absurdeste „Unschuldiger wird gehetzt“-Story der Filmgeschichte. Im Gegensatz zu Hitchcocks früherer Phase, ungefähr ein Jahrzehnt vor diesem Film, sind die Charaktere hier Typen, Hitchcock-Typen, der Unschuldige und die kühle Blonde. Nachdem Hitchcock diese Typen in Vertigo so destruktiv entlarvte, konnte nur das folgen, was „North by Northwest“ letztendlich ist: Eine Parodie, eine Komödie. Ein Kandidat für die genialste Komödie der Filmgeschichte. Hitchcock nannte seinen Film einen einzigen „zweistündigen Witz“ und Francois Truffaut nannte ihn „die Summe aller filmischen Erfahrungen“, beides treffendere Worte als sie meine Kurzkritik bieten kann.
„North by Northwest“, der Originaltitel, bezeichnet eine Richtung. In fast jedem seiner Filme geraten Hitchcocks Charaktere auf eine schiefe Bahn, meist durch passive oder aktive Beteiligung an einer Kriminalgeschichte, und sie suchen den Ausweg, die Lösung, in Hitchcocks späteren Werken vor allem irgendeinen „Sinn“. Hitchcock selbst sucht dabei den Sinn in der Sinnsuche, den Sinn des Filmemachens, spielt dabei bekanntlich auf dem Klavier unserer Emotionen. Hier ist die Sinnsuche im Informations- und Werbezeitalter, wo es (Zitat, Cary Grant) „keine Lügen sondern nur Übertreibungen gibt“, wo die Frage nach der Größe des Anzugs, der Telefonnummer, der Hotelzimmernummer eine ebenso relative und variable Frage ist wie die nach dem Namen, wo die eigene Mutter nicht mal den Charakter, die Identität von Roger O. Thornhill (das O. steht für nichts) kennt, hier ist diese Sinnsuche ein wahnwitziges Abenteuer in die Welt der Zeichen, Formen und Oberflächen.
Es gibt kaum Worte, die diesem Film gerecht werden. Es handelt sich hier im wahrsten Sinne des Wortes um ein „Erlebnis“. Beim ersten Sehen hielt ich ihn für das, was ihm gerne unterstellt wird: Ein simples, spaßiges Werk innerhalb der Epoche des „künstlerischen Hitchcocks“. Jetzt ist er für mich eines der größten Meilensteine, die ich je sehen durfte.
Von der deutschen Fassung ist komplett und mit Nachdruck abzuraten. Die anspielungsreichen, unendlich komischen Dialoge und Interaktionen zwischen den sehr, sehr, sehr genialen Cary Grant, Eva Marie Saint (die sympathischste Hitchcock-Blondine aller Zeiten) und James Mason darf man sich nicht ruinieren lassen.
Der Film vereint die Selbstreflexivität von „Vertigo“, den Spaß von „The Big Sleep“ mit der formalen Ausgeklügeltheit eines „Citizen Kane“ und ist folglich der Zenit der Unterhaltungsindustrie Hollywood.
Bleibt mir noch zu sagen, dass diese Kritik ein matter Furz ist und dem Film nicht gerecht wird.
Fazit: Kaufen und so oft wie möglich sehen, wenn man’s danach immer noch nicht vergöttert, sich untersuchen lassen!