AW: Brokeback Mountain
Kritik von Vince
BROKEBACK MOUNTAIN
Ausschnitte aus meiner
ofdb-Kritik
"Brokeback Mountain" glückte schlussendlich aus einem Grund: Weil Ang Lee Ang Lee ist.
Im Grunde betritt Ang Lee keinesfalls neuen Boden und ist auch gar nicht mal so mutig, wie man zunächst annehmen sollte. Dieser Eindruck kann sich nur dann bilden, wenn man mit Plakat, Inhaltsangabe und Trailer vertraut ist und glaubt, sich aufgrund dessen ein Urteil bilden zu können, kurz: Wenn man das Werk auf die einfache Formel “Schwulendrama im amerikanischen Weste(r)n” reduziert.
Tatsächlich schmiegt sich “Brokeback Mountain” jedoch nahtlos in die restliche Vita des Taiwaners ein und ist damit erschlossenes Land.
Lee inszeniert stets kalt und unpathetisch, was von Außenstehenden oder solchen, die nicht allzu sehr mit seinem Lebenswerk vertraut sind, als künstlich oder gar unglaubwürdig fehlinterpretiert werden könnte. Tatsächlich schafft der Regisseur mit dieser Vorgehensweise jedoch eine Sphäre, unterhalb derer Dinge gedeihen, die seinen Kollegen ihr ganzes Leben lang nicht gelingt: Er dringt unter die Oberfläche seiner Charaktere und macht sie für das Publikum begreifbar.
“Brokeback Mountain” ist nun das Resultat der glücklichen Fügung, dass der richtige Mann für das richtige Projekt engagiert wurde. Genau genommen dürfte die Kollaboration mit “Glück” aber wenig zu tun haben, weil davon auszugehen ist, dass Lee sich seine Projekte nach bestem Gewissen aussucht und schon im Vorfeld genau wusste, wohin die Reise führen würde. Ergebnis dessen sind Filme wie das Wuxia-Epos “Tiger & Dragon”, die Comicverfilmung “Hulk” oder eben das vorliegende Liebes- und Diskriminierungsdrama; Filme, die nicht nur durch die unterschiedlichen Genres auf den ersten Blick andersartiger nicht sein könnten, sondern auch in Disziplinen wie Pacing, Dramaturgie, Effekte oder Actiongehalt stark voneinander abweichen. Lee scheint ein Meister des Facettenreichtums zu sein, doch ineinander geflochtene rote Fäden ziehen sich wie ein DNA-Strang durch sein komplettes Lebenswerk. Sie alle thematisieren im Kern das Gleiche: die Sehnsucht des Menschen, aus der Maske auszubrechen, die ihm die Gesellschaft auferlegt hat.
Dahingehend ist die dargestellte Homosexualität nurmehr ein Katalysator eines universellen Anliegens des Regisseurs. Mit dem angenehmen Nebeneffekt selbstverständlich, dass “Brokeback Mountain”, vielleicht zusammen mit der Serie “Six Feet Under”, die wichtigste und effektivste Aufklärung über Homosexualität im neuen Jahrtausend bereithält. Nicht etwa, weil analytisch und plausibel erläutert werden würde, dass es keine Krankheit ist, schwul zu sein. Vielmehr deswegen, weil die Neigung zu gleichgeschlechtlichen Partnern in diesem Rahmen nur die äußere Erscheinung eines tiefliegenden Bedürfnisses eines jeden Menschen ist, egal ob schwul oder nicht: Der Wunsch, sich frei entfalten zu können, der Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz... in diesem speziellen Fall zudem der Wunsch nach Nähe und Geborgenheit. Das sind Dinge, die jeder Mensch nachvollziehen kann und deswegen schafft Ang Lee es endlich wieder, was ihm kurz zuvor mit “Hulk” teilweise verwehrt blieb: er lässt sein Publikum in die Herzen der Protagonisten schauen.
Sieht man von einigen wenigen Ungleichgewichtungen bezüglich der Figurenschreibung im zweiten Abschnitt mal ab, kann sich Ang Lee mit einer meisterhaften und beinahe makellosen Erzählung rühmen, die begleitet von konkurrenzlosen Bildern einen weiteren Baustein zum großen Kern beitragen, der im Zentrum des Regisseurs steht. Und dennoch ist es nicht “nur” ein Baustein für eine größere Sache, sondern verfügt für sich gesehen über einmalige Qualitäten, aber: es ist eben trotzdem auch ein Baustein. Diese Vielschichtigkeit verdeutlicht, dass “Brokeback Mountain” nicht einfach nur die Liebe zwischen zwei Männern dokumentiert. Wir sind mitten im Herzen dieser Männer, schweben aber auch beobachtend über der Gesellschaft, die wechselwirkend auf ihre Mitglieder einwirkt. Das ist Ang Lee.
9/10