AW: Spider-Man
The Amazing Spider-Man
Das Reboot – ein Marketing-Trick, bei dem die Zeitung von gestern den Wert von vorgestern hat. Reboots werden im Zeitalter des Informationsabfalls als Updates oder 2.0-Versionen verstanden; nicht einmal sind es unbedingt Fehler der alten Filmauflagen, die in ihnen korrigiert werden, sondern eher deren überholte Mode.
Einen solchen modischen Entwicklungssprung könnte Christopher Nolans "Batman Begins" ausgelöst haben, der eine neue Art von Hyperrealismus in die Stilrichtung „Comicverfilmung“ gebracht hat – dabei hatte Sam Raimis „Spider-Man“ die Comicverfilmung als Stilrichtung drei Jahre zuvor überhaupt erst initialisiert. Während sich Raimi, ähnlich wie Ang Lee mit „Hulk“ (2003), viele Holzschnittentwürfe (insbesondere bei Nebenfiguren wie Polizisten, Passanten oder dem von J.K. Simmons gespielten Zeitungsherausgeber Jameson) erlaubte, die mitunter einen stark ikonischen Panel-Charakter hatte und damit eine Nähe zum Medium Comic aufwies, versuchte Nolan, das Larger-Than-Life-Wesen des Comics in eine vom schmutzigen New-Hollywood-Kino inspirierte Realität einzupassen, kurz: Das Superheldentum aus dem Klammergriff des Phantastischen zu befreien. Auch Comics sollten fortan glaubwürdig sein. Das Studio sah in dieser Methode wohl die einzige Möglichkeit, die durch Joel Schumachers grelle Pop-Art-Spektakel „Batman Forever“ und „Batman & Robin“ zu Grabe getragene Batman-Franchise wiederzubeleben. Also wurde Nolan engagiert, der für seine unterkühlte, nüchterne Regie bekannt war. Mit Erfolg: Nolans „Batman“-Trilogie, die in diesem Sommer zu ihrem Ende geführt wird, gehört zu den einflussreichsten Comicadaptionen des bisherigen Jahrtausends.
Hat sich das Verständnis davon, was eine Comicverfilmung bieten muss, dadurch bereits weit genug verschoben, um die lukrative „Spider-Man“-Franchise einer Auffrischungskur zu unterziehen?
„The Amazing Spider-Man“ jedenfalls hält sich, soweit das Universum es zulässt, strikt an das Nolan-Erbe. Ernster und düsterer soll alles sein, weniger theatralisch – gerade nach der Seifenoper „Spider-Man 3“ wahrlich kein zu kühner Wunsch, speziell mit Blick auf die Zuschauerzahlen.
Der etwas weinerliche Tobey Maguire wurde durch Andrew Garfield ersetzt, der mit differenzierten Gesten das Saubermann-Image Peter Parkers abschafft. Er bringt der Figur bei, was es bedeutet, ein echter Mensch zu sein und keine Übungspuppe, an der man erläutert, was moralisches und verantwortungsbewusstes Handeln bedeutet. Garfield spielt keine Nerd-Type mit Brille, deren Aussehen und Verhalten ihn zum Außenseiter macht – das Außenseitertum wird als seine eigene Entscheidung dargestellt, denn aufgrund seines Aussehens und seiner immer wieder aufblitzenden emotionalen Intelligenz wäre er durchaus dazu in der Lage, sich in der Schule ein höheres Ansehen zu erarbeiten. Weshalb er das nicht macht, wird nicht weiter erörtert – es gehört eben zu jenen Geheimnissen, die ein komplexes Individuum mit sich tragen darf.
Selbst bei Flash Thompson (Chris Zylka), dem Bully der Schule, wird das Bemühen um eine divergente Charakterzeichnung ersichtlich, als er in einer Szene Mitgefühl für Peter zeigt. Auch die Polizisten sind keine vom Studio engagierten Kostümierten mehr, sondern eigenständig handelnde, glaubwürdige Figuren, und der Wissenschaftler (Rhys Ifans als Dr. Curt Connors) ist zumindest ein wenig mehr als nur die tragische Jekyll-und-Hyde-Variation. Bis hin zu Spider-Mans Netzproduktion, die nicht mehr wie bei Raimi biologisch produziert wird, sondern durch eine mechanische Vorrichtung, bemüht sich die Neuauflage darum, von den schraffierten Comiclinien abzuweichen und Batmans Beispiel einer in der Realität verankerten Welt zu folgen.
Doch Webb hadert merklich mit Raimis Erbe. Für die Einführung der Charaktere lässt er sich unglaublich viel Zeit, was zugleich bedeutet, dass er die phantastischen Elemente zunächst wie geplant zurückschiebt, um frei vom Ballast des Comichaften seine Figuren nach Herzenslust mit Komplexität zu füllen. Dabei kommt er jedoch nicht umhin, die Kernpunkte des Vorgängers neu zu erzählen. Unter anderem wird natürlich auch wieder Parkers moralisches Dilemma aufgeworfen, den Tod seines Ziehvaters verschuldet zu haben, weil er sich von niederen Vergeltungsgedanken hat leiten lassen. Aber ausgerechnet dieser Schlüsselmoment wird ähnlich symbolhaft erzählt wie im Original. Webb stellt Parkers Überheblichkeit gegenüber dem Kassierer, genau wie seinerzeit Raimi, geradezu zur Schau, um das Schicksal schließlich ein bitteres „das hast du nun davon“ nachrufen zu lassen. Hier vor allem hätte sich Webb noch stärker von Raimi lösen müssen, vielleicht auch, indem er die Schuldfrage offen gelassen hätte – was zugegeben eine Lawine ins Rollen gebracht hätte, bei der viele Fans der Comicreihe auf die Barrikaden gegangen wären.
Erzählerisch geht der Film dabei zwar alternative Wege, kommt aber letztendlich auch wieder an der gleichen Kreuzung aus: Nur weil der Überfall diesmal in einem Grocery Store stattfindet und nicht beim Wrestling, nur weil die Wrestlingveranstaltung sogar komplett ausgespart wird, nur weil beim Erforschen der neuen Fähigkeiten als menschliche Spinne andere Schwerpunkte gesetzt werden, nur weil Mary Jane gegen Gwen Stacy ausgetauscht wurde, folgt daraus noch längst keine eigene Interpretation.
Insbesondere aber visuell bleibt „The Amazing Spider-Man“ viel zu uneigenständig. Egoperspektive hin oder her, denn erstens ist der Trip aus den Augen Spider-Mans mit einer Szene gegessen, zweitens bleibt die Seilschwung-Dynamik trotz neuer Perspektiven und neuer Schauplätze im Grunde die gleiche, zumal auch schon wieder die Brooklyn-Bridge für ein erstes Ausrufezeichen des Gegenspielers als Schauplatz herhalten muss. Wer eine düstere Version im Sinn hat, kann sich normalerweise aber nicht an Postkartenmotive anlehnen.
Apropos Gegenspieler: Kurioserweise wird der Realismus-Kurs ausgerechnet beim Lizard verlassen. Ein CGI-Ungetüm, das von einer Godzilla-Hommage nur einen Spalt breit entfernt ist, trampelt durch New York und hinterlässt mehr als bloß Fußabdrücke. Das Authentischste daran bleibt die Imitation der Natur, als sich Spinne und Eidechse in der Kanalisation in ihren Elementen bekämpfen; mehr als eine Imitation ist in Sachen Realität nicht drin. Da Raimi damals damit verdutzte, aus dem Grünen Kobold einen Mann im Anzug zu machen, kann die Entscheidung für einen CGI-Gegner wieder nur als Reaktion auf „Spider-Man“ verstanden werden.
Für eine moderne Adaption geht der Blick letztlich viel zu oft in den Rückspiegel. Webb reagiert permanent auf die 2002er Version, anstatt seine ureigene Vorstellung umzusetzen. Hier liegt ein Kunstprodukt vor, das in der Momentaufnahme zwischen Raimis Trilogie, Stan Lees Vermächtnis, Nolans Realismus-Methodik und der Reboot-Idee gefangen ist. Als logische Konsequenz resultiert daraus ein Film, der ein wenig die Bodenständigkeit des neuen Batman atmet, ohne so radikal in der Wahl der Mittel zu sein; der kalkuliert wirkt, weil er unverblümt der aktuellen Nachfrage folgt; der sich von der noch recht jungen Vorgängertrilogie abheben möchte, es sich aber auch nicht mit den Comicfans verscherzen will. Dabei ist Webb erschreckenderweise ein durchaus kurzweiliger Film gelungen. Doch man fühlt sich anschließend leer und gleichgültig, denn letztendlich ist „The Amazing Spider-Man“ weder so recht Arachnid noch Insekt.
5/10