Welt am Draht
im „institut für kybernetik und zukunftsforschung“ (IKZ) hat man „simulacron“ entwickelt, eine neuartige real-simulation innerhab eines gewaltigen computersystems, in dem sogenannte „identitätseinheiten“ eine scheinbar echte existenz führen, ohne sich der tatsache bewusst zu sein, dass sie nur künstlich sind. im „simulacron“, das etwas 10,000 identitätseinheiten umfasst, sollen politische und wirtschaftliche simulationen erprobt werden, um fehlentscheidung in der realität zu vermeiden. der wissenschaftler Fred Stiller (Klaus Löwitsch) wird nach dem mysteriösen tod seines vorgängers zum neuen leiter des projekts und sieht sich bald mit einer reihe von seltsamen begebenheiten konfrontiert, die damit beginnen, dass ein alter freund von ihm spurlos verschwindet und er der einzige ist, der sich überhaupt noch an dessen existenz erinnern kann.
der enorm produktive Rainer Werner Fassbinder nahm sich 1973 eines für ihn ungewöhnlich erscheinenden stoffes aus dem bereich der science fiction an und schuf mit
„welt am draht“ einen interessanten blick hinter den spiegel des aufkeimenden computerzeitalters. in fast schon unverschämter dramaturgischer langsamkeit inszenierte er ein mehr als dreistündiges epos, in dessen verlauf seine hauptfigur Stiller alles hinterfragen sollte, was die eigene existenz und die seiner mitmenschen ausmacht. denn schon früh ist klar, dass etwas faul ist im staate Stillers, der zwar eindeutig im utopischen ambiente angesiedelt ist, jedoch ebenso gut zum zeitpunkt der dreharbeiten, also den frühen 1970er jahren, spielen könnte: die welt, die Fassbinder dem zuschauer hier präsentiert, ist, obwohl vertraut und alltäglich und von allgegenwärtiger banalität geprägt, schon in den allerersten szenen seltsam fremd und beunruhigend. manchmal stark unterkühlt, dann wieder in bunten dekors lässt er Stiller & co. dem geheimnis ihres lebens auf die spur kommen, lässt Löwitsch und dessen schauspielerkollegen zwischen stocksteif und impulsiv, dabei aber stets in seltsamer künstlichkeit, agieren.
eingefangen in bemerkenswerten bildern des kameravirtuosen Michael Ballhaus (inkl. 360-grad-kameraschwenk) malt der film ein stets befremdliches bild der 1970er gegenwart, auf effektmätzchen und aufwendige SF-kulissen verzichtet man praktisch völlig und entrückt ihn damit seiner eigenen zeit so sehr, dass er praktisch überall und jederzeit spielen könnte: tauscht man frisuren, mode und fahrzeuge aus, würde „
welt am draht“ noch immer aktuell aussehen. immer könnte man der meinung sein, dass sich alles an der nächsten straßenecke, dem nächsten nachtclub oder einem x-beliebigen büro ereignen könnte, in dem pläne geschmiedet, fehlschläge vertuscht oder dubiose geschäftsleute die wissenschaft für kommerzielle zwecke missbrauchen möchten.
Fassbinders figuren verhalten sich seltsam: eben wird eine rothaarige frau von einer kranlast zerschmettert, und Stiller hat nichts besseres zu tun, als ihr das feuerzeug zu klauen und sich damit seine zigarette anzuzünden. muskulöse, halbnackte afrikaner stehen in restaurantküchen herum, um fleisch zu hacken, und immer und überall scheint es reflexionen zu geben. spiegel spielen eine wichtige rolle in Fassbinders/Ballhaus’ bildsprache: stets und ständig werden ganze, minutenlange dialoge nur von spiegelbild zu spiegelbild geführt. reflektierende wasseroberflächen, spiegelblank polierte bartresen oder fensterscheiben, in denen die zerrbilder der protagonisten und ihrer welt auftauchen – in fast jeder szene gibt es diese dinge zu beobachten, und sie werden zum zentralen kern des films, und rasch steht fest, dass dies nicht von ungefähr kommt und seinen künstlerischen sinn hat.
denn: schließlich wird Stiller mit der wahrheit konfrontiert, und ihm wird klar, dass auch seine vermeintlich reale welt nur eine simulation ist, er das digitale spiegelbild seines schöpfers und alle seine freunde und kollegen sind nichts weiter, als die kopfgeburten ferner, unerreichbarer programmierer. so wie Einstein (Gottfried John), eine zentrale identitätseinheit im „simulacron“, sich seiner künstlichkeit bewusst und in der lage ist, mit seinen schöpfern kontakt aufzunehmen, ist Stiller von nun an besessen von der idee, diese zentraleinheit auch in seiner welt zu finden und begibt sich auf eine odyssee, die ihn bald zum täter, bald zum opfer macht.
Fassbinder wirft viele fragen auf. fragen nach der realität, nach der bedeutung der eigenen existenz und wie sehr man den sinnen trauen kann, die einem ein bild der umwelt liefern. für Stiller werden diese fragen beantwortet, denn letzten endes wird er seine eigene wahrheit finden (in einem schmucklosen, stumpfen zimmer ohne reflexionen), doch der zuschauer wird aufgefordert, sich eigene gedanken zu machen.
dieser frühe, extrem langsame, manchmal fast völlig von jeglichem tempo befreite vorläufer von
„matrix“ oder
„dark city“ ist in seiner seltsamen künstlichkeit, die sich vor allem im gewöhnungsbedürftigem schauspielstil der darsteller äußert, von befremdlicher wirkung und verlangt dem zuschauer auch einiges an geduld ab, aber ein blick lohnt sich.