AW: Amer
Ich bin absolut fasziniert! War ich zunächst skeptisch, ob mich der Film auch als giallo-"Kaumkenner" packen könnte, verflogen diese Bedenken schon nach wenigen Minuten. Denn sofort bereitete mir etwas Unbehagen...Grundängste wurden angesprochen. Das Auge durch's Schlüsselloch resultierte dann in einer Gänsehaut am ganzen Körper. Kurzum: die erste halbe Stunde zählt mit zum Schaurigsten, dass ich je in einem Film zu Gesicht bekam.
Dann folgt der Bruch, doch anders als Russell, sehe ich ihn nicht negativ. Die Verwirrung über diesen, weicht nämlich Schritt für Schritt der Erkenntnis, was das Thema/der Motor des Films überhaupt ist: die sich ändernde Einstellung zum Thema Seuxalität. Erst da kamen mir solche Gedanken, dass die erste Sequenz eine Fantasie nach/während der ersten Blutung eines jungen Mädchen sein könnte (was ich vorher noch als Bettnässen interpretiert hatte, was weit weniger psychologisch interessant gewesen wäre). Dort beginnt das sexuelle Zeitalter einer jeden Frau, was dann in der zweiten Sequenz dergestalt umgeformt wird, als das Ana dann lernt Sexualität einzusetzen. Konsequent endet diese Szene in der Backpfeife durch die Mutter...konsequent deshalb, weil dem Zuschauer (rein visuell, so wie 99% des Films) der Grund für diese Abstrafung mitgeteilt wurde: es handelt sich (wohl) nicht um Scham, um das "Das ziemt sich nicht!", sondern um puren Neid. Seien es die Blicke des Autofahrers, die auf Ana gerichtet sind und nicht die Mutter oder das subtile Grinsen, nachdem Ana ihre Mutter beim Färben der grauen Haare beobachtet hat.
Den dritten Part könnte man als reine Hommage abtun, doch ist er in meinen Augen viel komplexer. Getrieben von den Geistern der Vergangenheit, kehrt Ana in das verkümmerte Haus ihrer Kindheit und Jugend zurück. Auf dem Weg dorthin hat sie (mittlerweile voll in der Sexualität angekommen) ein erotisches Erlebnis mit einem Taxifahrer, der sie einerseits abstößt, andererseits auch durch seine plakative Männlichkeit fasziniert. Dass der später auftauchende "Killer" nicht mehr als ein alter ego Anas ist, wird wohl spätestens in der Szene klar, in dem sie sich die blutigen Handschuhe auszieht.
Zu dieser dritten und letzten Sequenz habe ich aber auch noch eine Theorie, die evt. etwas abwegig klingt: diese Sequenz beschreibt metaphorisch Anas Ehe. Zunächst befindet sie sich in einem Zug, in dem sie viele Männer sieht und berührt, was für ein promiskuitives Leben vor der Sesshaftigkeit steht. Dann findet sie einen Taxifahrer (gelesen als: ihren Mann), der irgendwie anders ist, als die anderen Männer. Sie fahren zusammen zu einem Haus, ziehen also zusammen (heiraten vielleicht!?). Schon auf dem Weg dorthin offenbart sich das Wechselspiel ihrer Beziehung, welches Motor und Damoklesschwert zugleich ist: eine Mischung aus leidenschaftlicher Sexualität und missbräuchlichem Verhalten (sie darf bspw. nicht das Fenster des Autos öffnen). Ana bringt mit dem Taxifahrer somit keineswegs einen Verfolger oder Eindringling um, sondern ihren eigenen Ehemann, da sie die Misshandlungen (Schnittwunden an den Beinen) und das ständige Beobachten (ausgeschnittene Augen) ihres Mannes nicht länger erträgt. Die schwarze Gestalt/die schwarzen Handschuhe symbolisieren dabei Anas dunkle Seite, die sie letztendlich auch in den Selbstmord treibt, was auf der Bildebene als Mord an der schwarzen Person dargestellt wird.
Ist euch etwas aufgefallen? Bis auf eine kurze Erwähnung im ersten Absatz, fiel nie das Wörtchen "giallo". Das zeigt zum einen, wie gesagt, natürlich, dass ich mich in dem Genre kaum auskenne (auch wenn ich die offensichtlichen Anspielungen, wie das Farbenspiel, Hexen, Erotik, Handschuhe, Tiere oder Musik schon erkannt habe), zum anderen aber auch, dass diese Referenzwelt nur der Überbau ist, um eine Geschichte mit den Mitteln des
pure cinema zu zeigen. Interessant ist dann auch, dass mir aufgrund der Mischung aus Erotik und teils schauriger, teils hitziger Atmosphäre v.a. ein Film immer wieder in den Sinn kam, der weit davon entfernt ist ein Vertreter des giallo zu sein: Picknick Am Valentinstag.
Trotzdem hat der Film es ebenfalls geschafft, dass mein Interesse am gelben Film wieder entflammt ist und ich auch jetzt beim Schreiben dieser Zeilen die
Musik aus Der Tod Trägt Schwarzes Leder höre.
Summa summarum ist Amer also ein Film, der auf verschiedensten Ebenen zu überzeugen weiß. Metaphorisch, referentiell, schaurig, erotisch...das war Faszination pur!