AW: Lost Highway
David Lynch ist Regisseur und Mythos zugleich. Selbst wenn man keinen seiner Filme gesehen hat: der geneigte Cineast hat zumindest von den vertrackten Geschichten, den Psychotrips und der Unverständlichkeit seiner Werke gehört. Das, was die meisten Zuschauer erwarten - eine Auflösung, einer Erklärung oder zumindest Motive der Protagonisten - verwehrt er ihnen meist mit großer Freude und großem Können. Zwangsläufig spaltet sich die Zuschauerschaft in zwei Lager. Kann ein Film funktionieren, ja gar ein Meisterwerk des Thrillers (dem Genre der Motive) sein, wenn er nur interpretierbar aber nicht erklärbar ist?
Den Inhalt bzw. den Grundplot werde ich nicht zusammenfassen, da dies meiner Meinung nach fatal wäre. Jegliche Beschreibung des Grundplots wird unumgänglich auf Spoiler treffen; jede Beschreibung dieser Wendungen wohl eher Kopfschütteln als Interesse nach sich ziehen (meiner Meinung nach enthält LDs Kritik schon zu viele Details, die sich lieber jeder selber erschließen sollte, da sie im Auge des Betrachters liegen).
Der Film ist grob in zwei Hälften/Welten/Realitäten unterteilt. Während die eine Hälfte eine relativ realistische Welt zeigt, die sich langsam in einen Albtraum wandelt, erinnert die andere an ein weniger offensichtliches Meanwhile City (aus dem Film Franklyn), sprich: ein noir-Abziehbild der "anderen" Welt. Eine Paralleluniversum in dem Mord, Sex, und Eifersucht das Weltbild prägen, in dem Gangster in schwarzen Limousinen mit bewaffneter Entourage herumfahren und femme fatales in weißen Kleidern die Männer nach Belieben manipulieren. Spätestens hier wird eines der Motive Lynchs deutlich: ein filmischer Metakontext.
Denn Lost Highway ist nicht nur ein Psychothriller, sondern auch ein Film über den Film und unsere Sehgewohnheiten selbst. Schon die Videotapes zu Beginn zeigen, wie aufgezeichnete Bilder Unbehagen in uns auslösen können, wie eine Kamera trügerisch sein kann, obwohl sie die Realität abbildet (passend dazu die Begründung von Bill Pullmans Charakter Fred, weswegen er keine Kameras mag: "I like to remember things my own way!"). Nicht umsonst griff der große Filme-über-Filme-Regisseur unserer Zeit, Michael Haneke, dieses Motiv auf und sponn es mit Caché konsequent weiter. Weiterhin bedient sich Lynch nicht nur bei noir-Klischees, sondern baut auch solche anderer Genres ein. So könnte man die Cops, die alles hinterfragen, nur nichts zu dem Fall, den sie eigentlich aufklären sollen, auch gut und gerne in einer Komödie finden. Weiterhin erinnert das Aussehen des "Mysterious Man" nicht zufällig an Gustav Gründgens in seiner Paraderolle als Mephisto (wobei ich das Faust-Motiv nicht überstrapazieren würde).
Was unbedingt hervorgehoben werden muss ist das Sounddesign. Ständig trägt ein Soundteppich aus undefinierbaren Klängen, die an eine unendlich tönende Lüftung erinnern, zum bedrohlichen Ambiente bei. Die Dynamik wird nicht für billige Schockeffekte verschwendet, sondern ist integraler Bestandteil der Handlung eines Films, in dem Atmosphäre und die Bilder in den Köpfen der Zuschauer die durch diese entstehen, so wichtig sind.
Die Kameraarbeit ist ebenfalls herausragend. Schnelle scharf/unscharf-Wechsel und Morpheffekte tragen ungemein zum Verfremdungseffekt bei. Interessant ist weiterhin, dass Lynch das Apartment zu Beginn fast ausschließlich aus starren Perspektiven zeigt und so einige Bereiche für den Zuschauer verschlossen bleiben, was das Überwachungskamera-Motiv unterstreicht.
Was soll das Ganze also? Kann nun ein Film funktionieren und ein Meisterwerk sein, wenn man es nur interpretieren aber nicht erklären kann? Wie man sich vielleicht denken kann: ja, und ob! Eine Auflösung à la "X ist der Mörder", "es war alles ein Traum" oder "du bist Tyler Durden" hat der Film weder nötig, noch würde sie ihn verbessern - im Gegenteil. Lost Highway lebt gerade von seinen Halbwahrheiten, Trugschlüssen und unerklärbaren Wendungen. Es ist eben keine Hitchcock-Suspense, sondern eine Spannung, die unsere Urängste anspricht. Und eben weil es bei bloßen Andeutungen bleibt kann einen dieses Angstgefühl noch wochenlang begleiten - der Film endet somit nicht nach 135 Minuten, sondern entwickelt ein Eigenleben in den Köpfen der Betrachter...und so etwas gelingt nur ganz besonderen Filmen.
(9/10)