Welt am Draht

Russel Faraday

Filmvisionaer
Registriert
23 Juni 2008
Beiträge
11.439
Ort
Gilead
Filmkritiken
35

Welt am Draht


im „institut für kybernetik und zukunftsforschung“ (IKZ) hat man „simulacron“ entwickelt, eine neuartige real-simulation innerhab eines gewaltigen computersystems, in dem sogenannte „identitätseinheiten“ eine scheinbar echte existenz führen, ohne sich der tatsache bewusst zu sein, dass sie nur künstlich sind. im „simulacron“, das etwas 10,000 identitätseinheiten umfasst, sollen politische und wirtschaftliche simulationen erprobt werden, um fehlentscheidung in der realität zu vermeiden. der wissenschaftler Fred Stiller (Klaus Löwitsch) wird nach dem mysteriösen tod seines vorgängers zum neuen leiter des projekts und sieht sich bald mit einer reihe von seltsamen begebenheiten konfrontiert, die damit beginnen, dass ein alter freund von ihm spurlos verschwindet und er der einzige ist, der sich überhaupt noch an dessen existenz erinnern kann.

der enorm produktive Rainer Werner Fassbinder nahm sich 1973 eines für ihn ungewöhnlich erscheinenden stoffes aus dem bereich der science fiction an und schuf mit „welt am draht“ einen interessanten blick hinter den spiegel des aufkeimenden computerzeitalters. in fast schon unverschämter dramaturgischer langsamkeit inszenierte er ein mehr als dreistündiges epos, in dessen verlauf seine hauptfigur Stiller alles hinterfragen sollte, was die eigene existenz und die seiner mitmenschen ausmacht. denn schon früh ist klar, dass etwas faul ist im staate Stillers, der zwar eindeutig im utopischen ambiente angesiedelt ist, jedoch ebenso gut zum zeitpunkt der dreharbeiten, also den frühen 1970er jahren, spielen könnte: die welt, die Fassbinder dem zuschauer hier präsentiert, ist, obwohl vertraut und alltäglich und von allgegenwärtiger banalität geprägt, schon in den allerersten szenen seltsam fremd und beunruhigend. manchmal stark unterkühlt, dann wieder in bunten dekors lässt er Stiller & co. dem geheimnis ihres lebens auf die spur kommen, lässt Löwitsch und dessen schauspielerkollegen zwischen stocksteif und impulsiv, dabei aber stets in seltsamer künstlichkeit, agieren.

eingefangen in bemerkenswerten bildern des kameravirtuosen Michael Ballhaus (inkl. 360-grad-kameraschwenk) malt der film ein stets befremdliches bild der 1970er gegenwart, auf effektmätzchen und aufwendige SF-kulissen verzichtet man praktisch völlig und entrückt ihn damit seiner eigenen zeit so sehr, dass er praktisch überall und jederzeit spielen könnte: tauscht man frisuren, mode und fahrzeuge aus, würde „welt am draht“ noch immer aktuell aussehen. immer könnte man der meinung sein, dass sich alles an der nächsten straßenecke, dem nächsten nachtclub oder einem x-beliebigen büro ereignen könnte, in dem pläne geschmiedet, fehlschläge vertuscht oder dubiose geschäftsleute die wissenschaft für kommerzielle zwecke missbrauchen möchten.

Fassbinders figuren verhalten sich seltsam: eben wird eine rothaarige frau von einer kranlast zerschmettert, und Stiller hat nichts besseres zu tun, als ihr das feuerzeug zu klauen und sich damit seine zigarette anzuzünden. muskulöse, halbnackte afrikaner stehen in restaurantküchen herum, um fleisch zu hacken, und immer und überall scheint es reflexionen zu geben. spiegel spielen eine wichtige rolle in Fassbinders/Ballhaus’ bildsprache: stets und ständig werden ganze, minutenlange dialoge nur von spiegelbild zu spiegelbild geführt. reflektierende wasseroberflächen, spiegelblank polierte bartresen oder fensterscheiben, in denen die zerrbilder der protagonisten und ihrer welt auftauchen – in fast jeder szene gibt es diese dinge zu beobachten, und sie werden zum zentralen kern des films, und rasch steht fest, dass dies nicht von ungefähr kommt und seinen künstlerischen sinn hat.

denn: schließlich wird Stiller mit der wahrheit konfrontiert, und ihm wird klar, dass auch seine vermeintlich reale welt nur eine simulation ist, er das digitale spiegelbild seines schöpfers und alle seine freunde und kollegen sind nichts weiter, als die kopfgeburten ferner, unerreichbarer programmierer. so wie Einstein (Gottfried John), eine zentrale identitätseinheit im „simulacron“, sich seiner künstlichkeit bewusst und in der lage ist, mit seinen schöpfern kontakt aufzunehmen, ist Stiller von nun an besessen von der idee, diese zentraleinheit auch in seiner welt zu finden und begibt sich auf eine odyssee, die ihn bald zum täter, bald zum opfer macht.

Fassbinder wirft viele fragen auf. fragen nach der realität, nach der bedeutung der eigenen existenz und wie sehr man den sinnen trauen kann, die einem ein bild der umwelt liefern. für Stiller werden diese fragen beantwortet, denn letzten endes wird er seine eigene wahrheit finden (in einem schmucklosen, stumpfen zimmer ohne reflexionen), doch der zuschauer wird aufgefordert, sich eigene gedanken zu machen.

dieser frühe, extrem langsame, manchmal fast völlig von jeglichem tempo befreite vorläufer von „matrix“ oder „dark city“ ist in seiner seltsamen künstlichkeit, die sich vor allem im gewöhnungsbedürftigem schauspielstil der darsteller äußert, von befremdlicher wirkung und verlangt dem zuschauer auch einiges an geduld ab, aber ein blick lohnt sich.
 
Zuletzt bearbeitet:

deadlyfriend

Casting
Teammitglied
Registriert
19 Juni 2008
Beiträge
18.405
Ort
Garma
Filmkritiken
185
AW: Welt am Draht

Der hört sich absolut interessant an. Ich hatte den schonmal im Fokus aber wieder verloren. Jetzt packe ich ihn mir mal auf die Wunschliste.
Deine Kritik ist darüber hinaus bärenstark:hoch:
 

Noeval

Filmvisionaer
Registriert
20 Juni 2008
Beiträge
22.444
Ort
Westfalen
Filmkritiken
0
Den Film muß ich auch noch sehen. Bisher kenne ich lediglich The 13th Floor mit Craig Bierko und Armin Mueller-Stahl, der auf derselben literarischen Vorlage von Daniel F. Galouye basiert.
 

Tarantino1980

Screenplay
Teammitglied
Registriert
25 Aug. 2008
Beiträge
23.932
Ort
Città di Giallo
Filmkritiken
236
AW: Welt am Draht

Bin ich dann tatsächlich erst die Zweite Person in diesem Forum die den Film nun gesehen hat :eek:.

Eine sehr schöne Kritik zu dem Film Russel :hoch:

in fast schon unverschämter dramaturgischer langsamkeit inszenierte er ein mehr als dreistündiges epos, in dessen verlauf seine hauptfigur Stiller alles hinterfragen sollte, was die eigene existenz und die seiner mitmenschen ausmacht.

Das hast Du sehr schön umschrieben. Auf der Blu-ray war der Film in zwei Teile aufgeteilt und so wie ich das verstanden habe, war das damals bei der TV Ausstrahlung auch so, das es zwei Teile gab die wahrscheinlich mit etwas versatz dann ausgestrahlt worden sind. Der erste Teil ist in der Tat sehr langatmig und mehr als nur ruhig inszeniert. Natürlich gehört dies dazu um die Story zu verstehen, aber ich könnte mir auch vorstellen das es einfach damals die Angst von Fassbinder war, wenn man diesen Stoff straffen würde, das das damalige TV-Publikum abgehangen würde und niemand den Film versteht. So hat er es, wenn aus heutiger Sicht vieleicht etwas gewöhnungsbedürftig, vieleicht absichtlich so langatmig inszeniert um somit dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, langsam und in Ruhe in diese sureale Welt einzutauchen udn alle Aspekte in Ruhe aufzunehmen und für sich persönlich zu verarbeiten.


denn schon früh ist klar, dass etwas faul ist im staate Stillers, der zwar eindeutig im utopischen ambiente angesiedelt ist, jedoch ebenso gut zum zeitpunkt der dreharbeiten, also den frühen 1970er jahren, spielen könnte: die welt, die Fassbinder dem zuschauer hier präsentiert, ist, obwohl vertraut und alltäglich und von allgegenwärtiger banalität geprägt, schon in den allerersten szenen seltsam fremd und beunruhigend. manchmal stark unterkühlt, dann wieder in bunten dekors lässt er Stiller & co. dem geheimnis ihres lebens auf die spur kommen,

Diesen Aspekt fand ich super! Zum einen bekam man für diese Zeitepoche typische Sets präsentiert, alte Telefone wurden verwendet, damalige Autos, Einrichtung und Dekor, aber dann in so einer extremem Kombination in Verbindung mit der Filmmusik und den teilweise sehr apartisch wirkenden Statisten machten das ganze zu einem Filmerlebnis schlechthin. Viele Szenen wirkten sowas von surreal das es einfach nur ganz großes Kino war für mich. Das dann noch in dem Wissen wann dieser Film gedreht wurde, macht Welt am Draht wirklich zu einem saustarken Film!

eingefangen in bemerkenswerten bildern des kameravirtuosen Michael Ballhaus (inkl. 360-grad-kameraschwenk) malt der film ein stets befremdliches bild der 1970er gegenwart, auf effektmätzchen und aufwendige SF-kulissen verzichtet man praktisch völlig und entrückt ihn damit seiner eigenen zeit so sehr, dass er praktisch überall und jederzeit spielen könnte: tauscht man frisuren, mode und fahrzeuge aus, würde „welt am draht“ noch immer aktuell aussehen. immer könnte man der meinung sein, dass sich alles an der nächsten straßenecke, dem nächsten nachtclub oder einem x-beliebigen büro ereignen könnte, in dem pläne geschmiedet, fehlschläge vertuscht oder dubiose geschäftsleute die wissenschaft für kommerzielle zwecke missbrauchen möchten.

Das hast Du auch sehr schön formuliert bzw. herrausgearbeitet :hoch:. Die Bilder bzw. die Kameraarbeit ist wirklich erstklassisch. Die gesamten Szenen in denen Dialoge durch Spiegelbilder dargestellt werden, Büroräume aus verschiedensten Blickwinkeln gezeigt werden usw, all das macht den Film wirklich aus. Noch dazu, das man wirklich, obwohl es ja ein klassicher SciFi Stoff ist, wirklich fast darauf verzichtet hat irgendwelchen futuristisch wirkenden Büros oder ähnliches als Set zu verwenden, sondern wirklich zum einen versucht hat die Zeitepoche der 70er mit einzubeziehen, den gesamten Film aber dennoch so insziniert hat das man ihn sich auch durchaus mit aktuellen Schauspielern in der heutigen Zeit noch vorstellen könnte, da dieses Thema wohl die "Urängste" des seins ausdrückt. Die Frage "Sind wir real oder im Grunde nur eine Projektion hat sich denke ich mal schon jeder einmal gestellt. Mal ganz abgesehen von der Herkunft unserer Existenz usw. Die Tatsache diesen Film so zu drehen, eine drei Stufen Realität aufzubauen und diese in sich so komplex zu gestalten, ist wirklich super ausgefallen!

dieser frühe, extrem langsame, manchmal fast völlig von jeglichem tempo befreite vorläufer von „matrix“ oder „dark city“ ist in seiner seltsamen künstlichkeit, die sich vor allem im gewöhnungsbedürftigem schauspielstil der darsteller äußert, von befremdlicher wirkung und verlangt dem zuschauer auch einiges an geduld ab, aber ein blick lohnt sich.

Ein Blick lohnt sich auf jeden Fall, vorallem wenn man bedenkt das dieser Film in den 70ziger Jahren entstanden ist, also weit vor Matrix. Natürlich kann man beide Filme nur grob miteinander vergleichen, da man bei Matrix nicht nur andere Möglichkeiten der Inszenierung hatte aber auch stellenweise ein anderer Ansatz verfolgt wurde. Die Grundidee ist die selbe, dennoch würde ich weder Matrix als Remake bezeichnen, eher als eine Art neu Interpretation des Themas an sich. Welt am Draht ist für mich jedenfalls eine absolute Filmperle die man gesehen haben sollte!
 

TaiFei

Ensemblemitglied
Registriert
27 Juni 2013
Beiträge
164
Filmkritiken
3
AW: Welt am Draht

Bin ich dann tatsächlich erst die Zweite Person in diesem Forum die den Film nun gesehen hat :eek:.

Nein, hab´mir die DVD inzwischen auch angesehen. Tatsächlich ist das aber bereits die zweite Sichtung des Mehrteilers. Ich habe mal in den 80ern eine der wenigen TV-Wiederholungen gesehen. Schon damals hatte mich die Darstellung wahnsinnig beeindruckt und die Story gefesselt, dabei hatte ich als Teenie die philosophische Komponente gar nicht mal so sehr mitbekommen. Heute, mit über 40 Lenzen :bart:, kann ich dem Film sogar immer mehr abgewinnen. Ich meine sogar eine kleine Remineszens auf den dritten Mann erkannt zu haben (Sedlmayr statt Hörbiger).
 

2moulins

Filmgott
Registriert
21 Juni 2008
Beiträge
7.309
Ort
Saarland
Filmkritiken
14
AW: Welt am Draht

Obwohl ich von mir behaupte, dass mein Filminteresse sehr breit gefächert ist, gehörten die Filme von Rainer Werner Fassbinder eigentlich noch nie zu meinem "Beuteschema". Nachdem ich mir in den letzten Tagen 3 1/2 Std. lang die beiden Teile von "Welt am Draht" ansah, stelle ich fest, dass sich daran trotz fortgeschrittener persönlicher Reifung (;)) nichts geändert hat.

Auf den Film wurde ich insbesondere durch die kürzlich gelesene Biographie von Michael Ballhaus aufmerksam. Der Kameramann hatte viele Filme Fassbinders abgelichtet. Ich muss auch sagen, dass für mich die Kamerarbeit das Bemerkenswerteste an "Welt am Draht" war. Die Kameraführung, Blickwinkel und oftmals verwendete Spiegelsituationen fielen schon (positiv) auf. Aber ansonsten fand ich die Art und Weise des Schauspielens ziemlich extrem und künstlerisch etwas abgehoben, jedenfalls war's nicht mein Geschmack! Handlungstechnisch war auch manches absurd (z.B. die hier bereits erwähnte Szene, als die Palette auf die ältere Dame fiel und "Stiller" sich teilnahmslos ihres Feuerzeugs bediente....? Könnte man ja vielleicht auch noch damit erklären, dass man sich in einer irrealen Welt befand... na ja ... war irgendwie trotzdem nicht so ganz schlüssig).

Dass der Film/die Story ein Vorläufer von "Matrix" darstellt, mag auf der Tonschiene 'rüberkommen, in den Bildern kommt das aber wenig 'rüber. Da hätte ich etwas mehr aus der Sicht der wirklichen Welt erwartet.

Interessant waren die Auftritte vieler bekannter TV-Gesichter aus früherer Zeit und als Gag empfand ich Bruce Low ("Noah") als Arzt :lol:. Der wäre heute übrigens schon 103, wenn er noch leben würde.

Wer Interesse an der Blu-ray hat, dem kann ich sagen, dass das Bild nie den Anschein erweckt, man hätte es mit HD zu tun.

Kameraarbeit: 9/10
Art des Schauspiels: 3/10
Gesamteindruck des Films: 4/10
 

TaiFei

Ensemblemitglied
Registriert
27 Juni 2013
Beiträge
164
Filmkritiken
3
AW: Welt am Draht

Wer Interesse an der Blu-ray hat, dem kann ich sagen, dass das Bild nie den Anschein erweckt, man hätte es mit HD zu tun.

Das wird daran liegen, dass der Film original für´s Fernsehen produziert wurde. Tatsächlich wurden einige Fehler (Fussel auf der Linse im oberen Rand in der Barszene) sogar absichtlich nicht entfernt.
 
Oben