Alice im Wunderland
Als Kenner und Anhänger der Lektüre muss ich sagen, dass es Regisseur Tim Burton sowohl geschafft hat, den Esprit der Alice-Bücher einzufangen, aber auch eine eigene Mixtur zu finden, die dem Ganzen einen filmischen Mehrwert gibt. Er interpretiert hier und da etwas dazu, lässt anderes weg. Eine bei einer Literaturverfilmung logische Gratwanderung, die ihm aber durchaus geglückt ist. Insgesamt wirkt sein Vorhaben rund, da es das Auslassen wichtiger Charaktere vermeidet. Ganz im Gegenteil, es feiert sie teilweise geradezu ab. Besonders das Zusammenspiel der verschiedenen Typen, denen Alice begegnet, stellt nämlich eine entscheidende Säule des herrlich grotesken Humors in den beiden Büchern dar. Dahingehend kann man Burtons Interpretation nur sehr wenige Vorwürfe machen, auch wenn man sich stellenweise einfach noch mehr Tiefgang wünscht. Im Großen und Ganzen trifft er die skurrilen Charaktere allerdings sehr gut.
Auch die Schauspieler wirken insgesamt äußerst spielfreudig, obgleich ich mir mehrmals die Frage gestellt habe, ob Johnny Depp denn wirklich die Idealbesetzung für den verrückten Hutmacher ist. Er ist natürlich Burtons Wunschkind und gnadenlos talentiert, aber mir war er fast etwas zu vereinnahmend auf der Leinwand. Außerdem wirkte seine Rolle eher wie eine Mixtur aus Captain Sparrow und Willy Wonka. Der Eindruck der Einzigartigkeit, welchen beispielsweise die computergenerierte Grinsekatze hinterlässt, entfällt bei ihm komplett. Und das ist schlichtweg schade, zumal es ihm die glänzend aufspielende Helena Bonham Carter herzerfrischend vormacht, wie es geht. Sie spielt hier ohnehin alle an die Wand und sorgt für viele auflockernde Schmunzler.
Der Film ist natürlich vor allem optisch faszinierend und zählt zum Schönsten, was ich je gesehen habe. Die bunten Farben erschlagen den Zuschauer, dieses hübsche Wunderland lässt Kinderheitsträume wieder aufkeimen und all die kleinen Details sind einfach nur famos in Szene gesetzt. Alles wirkt wie ein quicklebendiges Gemälde und sprüht förmlich vor Einfallsreichtum. Wenn man diesen Film gesehen haben muss, dann vor allem wegen diesen einzigartigen Schauwerten.
Außerdem erzählt der Film eine zeitlose Geschichte von der Selbstverständlichkeit des Verrücktseins, den stets vorhandenen zwei Seiten einer Medaille und der zauberhaften Sorglosigkeit kindlicher Fantasie. Auch wenn Tim Burton das Ganze etwas reifer verpackt und etwas weiterdenkt, war Alice so oder so nie ein schlichtes Kinderbuch. Vielmehr sollte es die Erwachsenen an das Kindsein erinnern. Und das schafft auch diese bildgewaltige Interpretation von Lewis Carrolls linguistisch anspruchsvollem literarischen Meisterwerk.
8/10